Mittwoch, 9. Oktober 2002

Der Fernsehturm brennt

Das Beschnuppern war nicht der einzige Zweck des Treffens, es wurde hart gearbeitet. Statt unter Anleitung ihrer Lehrer hatten die jungen Autorinnen und Autoren erstmals einen waschechten Autor als „Trainer“ vor sich: Imre Török, den Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes Baden Württemberg (VS).
Kreativität auf Kommando? Geht das? Kann man Schreiben lernen? Man kann, wenn man es trickreich anstellt. Da liegen plötzlich Pfennige auf dem Tisch, Glückpfennige vielleicht, die die Phantasie anregen sollen, Nachdenken provozieren: Glück, was ist das? Und Unglück, ist das Gegenteil? Oder eher Pech? Und wann wird ein Unglück zur Katastrophe? Genug diskutiert, jetzt wird losgeschrieben, dann vorgelesen, gefragt, kritisiert, kommentiert, gelobt, ermutigt.
Da entstehen in kürzester Zeit erstaunliche kleine Werke: Vom existentialistisch angehauchten, philosophisch komplexen Gedicht bis zur humorvollen Familienskizze, die meisterhaft die Perspektive eines Kleinkindes auf einen langweiligen Aufenthalt bei den Verwandten beschreibt. Es gibt Tagträume vom 9/11-Hubschrauber-Angriff auf den Stuttgarter Fernsehturm oder witzige Satiren auf genau die Situation, in der man sich gerade befindet: Da fällt einem nix ein und man ist auch noch als erster mit Vorlesen dran. Pech eben.
Wie ist das, wenn man immer lachen muss, wenn einem jemand berührt, ist das ein Segen oder ein Fluch? Man merkt deutlich, dass hier erfahrenere Schreibende am Werk sind. Trainiert wird in Arbeitsgemeinschaften an der Schule, ohne Noten, bei manchen gar an Samstagvormittagen. Geübt werden Phantasiegeschichten, Identifikation, Perspektivwechsel, innerer Monolog, Märchen: das Handwerkzeug.
Aber auch originellere Aufgaben denken sich die Lehrer aus. Im Computerraum entstehen „Kollektivtexte“: Einer fängt an, dann werden die Plätze getauscht. Das trainiert die Sensibilität, den Blick für den Stil und den Aufbau des zunächst fremden Textes, er wird zum eigenen.
„Wir arbeiten an den Texten von gestern weiter. Wer fertig ist, kann aber auch schon einmal vorstellen.“, ermuntert der Profi. Da ist ein satirisches Gedicht auf die Wahlschlappe der FDP und ein Fragment einer Abenteuergeschichte im ewigen Eis, ein rachelustiger innerer Monolog lässt die Zuhörer zunächst rätseln, dann: „Ich finde gut, dass der Ttext offen lässt, was eigentlich passiert ist. Das ist interessanter für die Leser. Aber wahrscheinlich wurde sie von einem Freund sitzen gelassen.“ In einer anderen Geschichte gesteht ein „Zwilling“ nach Jahrzehnten eine Brandstiftung. „Die Geschichte hört zu früh auf. Es sind zu viele Fragen offen. Überlegen Sie, warum er jetzt gesteht, was damals passierte, was in den ganzen Jahren in ihm vorging.“, schlägt Imre Török vor.
„An einem Gymnasium muss die AG jetzt gestrichen werden, es sind Pflichtstunden abzudecken. Kann da der Schriftstellerverband helfen?“, fragt einer der anwesenden Lehrer den Autoren-Gewerkschafter zum Abschluss. Imre Török schlägt vor: „Wenden Sie sich an den Förderkreis deutscher Schriftsteller, der organisiert kostenlose Seminare, an denen auch die jungen Leute teilnehmen können.“
Denn Förderung haben sie allemal verdient.


„Augen-Blicke“. Zu beziehen über G. Herrmann, Vaihinger Landstr. 70, 70195 Stuttgart. 5 EUR. ISBN 3-933916-06-02




„Es tut mir in der Seele, weh, wenn ich euch jetzt beim Schreiben unterbrechen muss.“ Imre Török (stehend, rechts) von Schriftstellerverband Baden Württemberg beim Schreibworkshop mit Schülerinnen und Schülern im Stuttgarter Schriftstellerhaus.

Der Fernsehturm brennt
Schreibwochenende von Jung-Autoren mit Imre Török im Schriftstellerhaus Stuttgart
Es war ein Schreibseminar der besonderen Art zu dem sich Schülerinnen und Schüler an einem Spätsommerwochenende im Schriftstellerhaus Stuttgart zusammenfanden. Die Jugendlichen sind Teilnehmende des „Programms zur Förderung besonders befähigter Schüler“ des Oberschulamtes Stuttgart und hatten erstmals Gelegenheit sich kennen zu lernen. „Literarisch versammelt“ hatten sie sich schon vorher in dem Bändchen „Augenblicke“, das zum zweiten Mal die Texte er jungen Talente aus dem Stuttgarter Dillmann-Gymnasium, aus dem Andreae-Gymnasium Herrenberg und aus dem Albert-Schweitzer-Gymnasium in Neckarsulm präsentiert. Schon letztes Jahr war ein Band mit dem Titel „Wurzeln, Wege Visionen“ erschienen.

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