Freitag, 5. Dezember 2003

Zum ersten Marbacher Dichterduell

So sah es auch auf dem ersten Marbacher Dichterduell aus, das die Literaturkenner Oliver Gassner und Martin von Arndt am 27. November im frisch renovierten und für Kulturveranstaltungen neu eröffnete Schlosskeller der Schiller-Stadt moderierten. Rap und Prosa, Poesie und Satire, Improvisiertes und vom Blatt Gelesenes wurden mit schwindelerregender Geschwindigkeit von den Kontrahenten ins Publikum rezitiert, skandiert, geflüstert, genuschelt. Am Ende entschied sich das Publikum für die 65-Jährige Evelyn Sperber aus Ludwigshafen.
Den vier Prosatexten, die die Gewinnerin des Abends vorlas, kann man einen gewissen Unterhaltungswert nicht absprechen. Leicht verständlich, pointiert, ironisch, ohne jegliche Posse vorgelesen, konnten diese Texte sofort auf- und angenommen werden. Das kann ebenfalls von den Kurzgeschichten und Gedichten des Finalisten Jochen Weeber gesagt werden. Ganz anders verhielt es sich mit den beiden jungen Stuttgartern Tobias Borke und Gün Aydemir, die mehr oder weniger erwartet früh ausschieden. Wegen ihrer sozialpolitisch gefärbten Thematik? der stilistischen Besonderheit ihrer Texte? ihrer originellen und vielleicht gewöhnungsbedürftigen Vortragsweise? Vor allem Borke, der im Literaturhaus Stuttgart eine Schreibwerkstatt für Jugendliche leitet, stellte durch minutenlange Improvisationen seine Kunstfertigkeit unter Beweis – und verlor. Eine kleine Ironie, eigentlich. „Dichterduell“, das ist das deutsche Wort für den aus den USA importierten Poetry Slam, der seit einigen Jahren zur Jugendkultur beinah jeder deutschen Stadt gehört. Was aber, wenn der Slam vor einem reiferen Publikum abgehalten wird? Klar – auch dieses Publikum wird sich die Hände wund klatschen, um seinen Geschmack durchzusetzen. Eine direktere und ehrlichere Form der Demokratie gibt es kaum. Und hier zeigt sich, welch eine entscheidende Rolle das große Publikum spielt – nicht nur in der Kulturrezeption, sondern auch in der Gestaltung unseres Kulturlebens überhaupt. Wo man auch hinschaut – im Fernsehen, auf dem Büchermarkt, in Theaterhäusern, in Kunstgalerien wird für ein Publikum produziert, das durch Interesse oder Gleichgültigkeit entscheidet, was Sache ist und was nicht. Dieses Publikum entscheidet jedoch selten nach ästhetischen Kriterien. Was zählt, ist vor allem der Unterhaltungswert des Produkts.
Alles in allem, ein unterhaltsamer und lehrreicher Abend im Schlosskeller der Schiller-Stadt. Wenn Gassner und von Arndt es schaffen, ein bunteres Publikum fürs nächste Dichterduell zu interessieren, dann können wir vielleicht bald von einer neuen Tradition in der schon traditionsreichen Schiller-Stadt sprechen.

Dichter, Duelle, Demokratie
Zum ersten Marbacher Dichterduell
Von Sergiu Stefanescu, mit Genehmigung des Autors
So kann eine Gemeinschaftslesung auch aussehen. Sechs Dichter, Frauen und Männer, von sehr jung bis weniger jung, professionell bis amateurhaft, bekämpfen sich gegenseitig auf der Bühne. Mit keinen anderen Waffen als den eigenen Prosatexten und Gedichten. In drei Runden, wie beim Boxen. Doch über die Gewinner der einzelnen Runden entscheidet, anders als beim Boxen, allein das Publikum. Wer von den Zuschauern mit dem lauterem Applaus belohnt wird, kommt weiter. Wer am Schluss noch „auf den Beinen“ steht, hat gewonnen.

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