Mittwoch, 28. Oktober 2020

Christa Ludwig – „Alle Farben weiß“


von Chris Inken Soppa

 

Nach ihrem Lasker-Schüler-Roman „Ein Bündel Wegerich“ beschert uns Eichendorff-Literaturpreisträgerin Christa Ludwig nun eine Erzählung. Ein schmales Buch, eines, das sich zunächst leicht und luftig liest. Eines, dessen Komplexität und Struktur sich nicht auf den ersten Blick offenbart.

 

Studentin Selina möchte Künstlerin werden; die handwerkliche Fähigkeit dafür besitzt sie unbedingt, die Präzision ihrer Finger bewegt sich im Mikrobereich. Die Freiheit jedoch, sich in Kunst und Leben eigene Welten zu schaffen, nimmt sie sich nicht. Stattdessen wird sie nolens volens zur liebevoll-alleinerziehenden Mutter. Und zur Restauratorin. Ein Beruf, den sie zunächst kaum ernst nimmt, über dessen Ehrenkodex sie sich gar lustig macht, weil sie ihn für künstlerisch irrelevant hält.

 

Doch dann bekommt Selina den Auftrag, ein übermaltes Kirchenbild freizulegen. Es von der dilettantisch-abgründigen Malschicht zu lösen, die darüber liegt. Was Selina nach und nach an Gesten, Gewändern und Gestalten aufdeckt, mag sich zu einem mittelalterlichen Bild zusammenfügen, scheint jedoch uralte Gewissheiten zu hinterfragen. Hundertprozentig erfährt man es nicht – wer mag schon die Botschaft eines unbekannten Künstlers vollumfänglich enträtseln, der vor Hunderten Jahren lebte und malte? Die freigelegten Bildfragmente allerdings werden Selina zu Impulsen, die sie Stück für Stück in ihr reales Leben mitnehmen kann.

 

„Alle Farben weiß“ ist ein Buch, das sich mit der Leserin, mit dem Leser entwickelt. Brüche und Leerstellen laden zum Nachdenken ein. Dabei wirkt Christa Ludwigs Sprache klar, klug und schnörkellos-elegant. Ihre Erzählung ist es wert, in regelmäßigen Abständen wieder und wieder gelesen zu werden – vielleicht gar ein Leben lang.

 

Dienstag, 24. März 2020

Chris Inken Soppa: Der Große Muntprat – Historische Romanbiografie Konstanz (Südverlag) 2020



Katja Neuser

Rezension zu

Chris Inken Soppa Der Große Muntprat – Historische Romanbiografie Konstanz (Südverlag) 2020

Der Große Muntprat – muss man ihn kennen? Weil es eine Muntpratstraße in Konstanz und in
Ravensburg gibt, den Wirkungsstätten des reichsten Patriziers im süddeutschen und
eidgenössischen Raum in den Zeiten des Konstanzer Konzils?
Historische Romanbiografie lautet der Untertitel zu Chris Inken Soppas 500 Seiten starkem
vielschichtigen literarischen Portrait, das – wie die Konstanzer Autorin und IBC-
Fachgruppenleiterin Literatur vorneweg ausdrücklich betont – das Leben des Kaufmanns Lütfrid Muntprat als Roman darstellt. Was sie in chronologischer Ordnung entsprechend der historischbelegten Lebensstationen erzählt, beruht auf einer intensiven Recherche der Spuren, die der  einflussreiche Patrizier in vielfältigen Quellen hinterlassen hat, bleibt aber angesichts fehlender  authentischer Zeugnisse wie Briefen fiktiv. Im Kapitel vorweg erklärt Soppa ihr literarisches Vorgehen. „Im Stadtarchiv St. Gallen findet sich der einzige erhaltene Brief aus Lütfrids Feder.
Er stammt aus dem Jahr 1428. Allein die Schrift: klein, sparsam, charaktervoll und überraschend gut lesbar, berührte mich spontan. Ich suchte nach weiteren Spuren des Kaufmanns und entdeckte so viele, dass ich beschloss, die Puzzlestücke zusammenzufügen und Lütfrid Muntprats Leben literarisch zu fassen. Als Roman, wohlgemerkt, nicht als Fachbuch.“
Das ist angesichts des Glossars und der Quellennachweise in diesem spannend und fesselnd zu
lesenden Roman eine glatte Untertreibung, im Hinblick auf die kunstvoll verwobenen Bauformen des Erzählens nicht unbescheiden: Da fallen immer wieder Worte aus der Zeit, wenn von Altervater (dem Großvater) oder Zungenklaffer (dem Verleumder) gesprochen wird, wenn Quellenzitate und Urkundentexte in die Erzählung eingewoben sind wie der vorweg erwähnte Brief, wenn Lütfrid in den Sprachen von Kostenz, Perselone oder Venedien mit seinen Mitbürgern und Geschäftspartnern aus Konstanz, Barcelona oder Venedig spricht und sich mit  seiner Vielsprachigkeit und Verhandlungsgeschick Handelsbeziehungen erstreitet. Da
verschlingen sich die Erzählstränge um Liebesgeschichten und Todfeindschaften wie die
zwischen Lütfrid und der Tochter seines ärgsten Konstanzer Widersachers, der die Heirat
vereitelt und die uneheliche Enkeltochter erst am Ende seines Lebens versöhnlich in die Arme
schließt, mit Erzählsträngen um Verwandtschaft und Freundschaft wie zwischen den Eheleuten
und den Brüdern Muntprat oder um Heiratspolitik und Liebe wie zwischen Lütfrid und seiner
Frau Brida, die ihm den Weg zum Rheintaler Adel öffnet, schließlich um Handel und Wandel in
den Machtkämpfen zwischen Königen und Päpsten, zwischen Patriziern und Zünften in Zeiten,
in denen Kaufleute jederzeit auch auf abenteuerliche Begegnungen mit Raubrittern und Piraten
oder Krieg und Krankheiten gefasst sein mussten.
Man kann sich in den vielen Erzählsträngen dieses Buches verlieren, sich mitreißen lassen von
der Begeisterung der Autorin für ihren Helden, den sie menschlich zeichnet wie einen fernen
Freund, der als besonnener und strategisch kluger guter Kaufmann menschlich denkt und handelt und darin seiner Zeit voraus ist. Das ist für mich das Fiktive und Bezaubernde, das den Roman zu einer fesselnden Zeitreise macht, bei der man den historischen Muntprat nicht kennen, sein mittelalterlich geprägtes Denken nicht verstehen muss, um in seiner fiktiven Lebensgeschichte einen aufgeklärt denkenden Reiseführer zur Seite zu haben, der einen berührenden Blick auf das ausgehende Mittelalter und die Unwägbarkeiten historischer Veränderungen öffnet, die seinen  eindrucksvollen Lebensweg geprägt haben.