Literatur in Baden-Württemberg
Freitag, 4. Juni 2021
Sonntag, 11. April 2021
Andreas Kirchgäßner: „Die sieben Farben der Nacht. Marokkos Süden“
Andreas Kirchgäßner: „Die sieben Farben der Nacht. Marokkos Süden“
Der Freiburger Autor und Journalist Andreas Kirchgäßner ist Marokko-Experte. Ein besonderes Faible hat er für die dortige Musik, die bereits Jimi Hendrix, Robert Plant, Jimmy Page oder Sting zutiefst begeisterte.
Jahrelang versorgte Kirchgäßner SWR und WDR mit ausgezeichnet recherchierten Reportagen aus dem nordwestafrikanischen Land – aus seinen Reiseberichten ist nun ein farbenfrohes und lebhaftes Buch entstanden.
Kirchgäßner nimmt uns mit auf ein Musikfestival in der Hafenstadt Essauira im Süden des Landes. Hier lebt die Sufi-Bruderschaft der Gnawa – Nachkommen schwarzer Sklaven – ihre Traditionen. Ihre Musik ähnelt dem Jazz, dem Blues: „zart, gebrochen, melancholisch und zugleich archaisch, dann wieder laut, rasselnd und wild“. Die Mission des Autors: Als Fremder und Außenseiter möchte er an einer „Lila“ (arabisch für „Nacht“) teilnehmen. Hier werden musikalische Heilungsriten zelebriert. Die beschworenen Geister zeigen sich in sieben unterschiedlichen Gruppen, jede markiert durch ihre besondere Farbe, die ganze Nacht hindurch.
Anschaulich zeigt Kirchgäßner, wie mühsam es ist, sich einer fremden Kultur offen und vorurteilsfrei zu nähern. Das funktioniert nur, wenn man bereit ist, eigene Gewissheiten zu hinterfragen und sich selbst immer wieder mit dem Blick des unbekannten Gegenübers zu betrachten. Auf seiner Suche nach der Lila begegnet der Autor Instrumentenbauern, Holzschnitzern, Schlangenbeschwörern, Musikern, Meisterinnen, Heilerinnen. Zwischen dem Fremdem und der einheimischen Bevölkerung kommt es zu Missverständnissen, zu Streit, Fettnäpfchen lauern allerorts. Pläne und Verabredungen scheinen nur einem Zweck unterworfen: sie spontan wieder zu ändern.
Denn eine unkonventionelle Sicht auf Probleme kann diese auch lösen. So findet der Autor seine Lila nicht, er veranstaltet selbst eine. Mit Hilfe von Einheimischen, die alle ihre eigenen Gründe haben, ihm zu helfen. Am Ende gelingt es dem Autor trotz aller Widerstände, in die wirbelnde Trancenacht abzutauchen.
Ohne zu beschönigen und ohne Reisebüro-Metaphern nimmt Kirchgäßner uns mit in eine fremde Welt, die wir selbst vielleicht nie bereisen werden. Zu seinen kenntnisreichen und farbigen Schilderungen passt das wunderbar von Eva Hocke in dunkelblau und Orange gestaltete Buch mit den ebenso farbigen und kraftvollen Fotografien des Autors und der Fotografin Marion Beckhäuser. Ein starkes Stück Reiseliteratur!
Rezension von Chris Inken Soppa
osbert+spenza 2020
ISBN: 978-3-947941-02-5
24,00 Euro
Bild: „Moqqadema“ – Heilerin mit Räucherwerk (copy Andreas Kirchgäßner)
Cover: „Sieben Farben der Nacht“ (copy Verlag Osbert+Spenza)
Mittwoch, 28. Oktober 2020
Christa Ludwig – „Alle Farben weiß“
von Chris Inken Soppa
Nach ihrem Lasker-Schüler-Roman „Ein Bündel Wegerich“ beschert
uns Eichendorff-Literaturpreisträgerin Christa Ludwig nun eine Erzählung. Ein
schmales Buch, eines, das sich zunächst leicht und luftig liest. Eines, dessen Komplexität
und Struktur sich nicht auf den ersten Blick offenbart.
Studentin Selina möchte Künstlerin werden; die handwerkliche
Fähigkeit dafür besitzt sie unbedingt, die Präzision ihrer Finger bewegt sich
im Mikrobereich. Die Freiheit jedoch, sich in Kunst und Leben eigene Welten zu
schaffen, nimmt sie sich nicht. Stattdessen wird sie nolens volens zur liebevoll-alleinerziehenden
Mutter. Und zur Restauratorin. Ein Beruf, den sie zunächst kaum ernst nimmt,
über dessen Ehrenkodex sie sich gar lustig macht, weil sie ihn für künstlerisch
irrelevant hält.
Doch dann bekommt Selina den Auftrag, ein übermaltes Kirchenbild
freizulegen. Es von der dilettantisch-abgründigen Malschicht zu lösen, die
darüber liegt. Was Selina nach und nach an Gesten, Gewändern und Gestalten aufdeckt,
mag sich zu einem mittelalterlichen Bild zusammenfügen, scheint jedoch uralte
Gewissheiten zu hinterfragen. Hundertprozentig erfährt man es nicht – wer mag
schon die Botschaft eines unbekannten Künstlers vollumfänglich enträtseln, der
vor Hunderten Jahren lebte und malte? Die freigelegten Bildfragmente allerdings
werden Selina zu Impulsen, die sie Stück für Stück in ihr reales Leben
mitnehmen kann.
„Alle Farben weiß“ ist ein Buch, das sich mit der Leserin,
mit dem Leser entwickelt. Brüche und Leerstellen laden zum Nachdenken ein. Dabei
wirkt Christa Ludwigs Sprache klar, klug und schnörkellos-elegant. Ihre
Erzählung ist es wert, in regelmäßigen Abständen wieder und wieder gelesen zu
werden – vielleicht gar ein Leben lang.
Dienstag, 24. März 2020
Chris Inken Soppa: Der Große Muntprat – Historische Romanbiografie Konstanz (Südverlag) 2020
Katja Neuser
Rezension zu
Chris Inken Soppa Der Große Muntprat – Historische Romanbiografie Konstanz (Südverlag) 2020
Der Große Muntprat – muss man ihn kennen? Weil es eine Muntpratstraße in Konstanz und in
Ravensburg gibt, den Wirkungsstätten des reichsten Patriziers im süddeutschen und
eidgenössischen Raum in den Zeiten des Konstanzer Konzils?
Historische Romanbiografie lautet der Untertitel zu Chris Inken Soppas 500 Seiten starkem
vielschichtigen literarischen Portrait, das – wie die Konstanzer Autorin und IBC-
Fachgruppenleiterin Literatur vorneweg ausdrücklich betont – das Leben des Kaufmanns Lütfrid Muntprat als Roman darstellt. Was sie in chronologischer Ordnung entsprechend der historischbelegten Lebensstationen erzählt, beruht auf einer intensiven Recherche der Spuren, die der einflussreiche Patrizier in vielfältigen Quellen hinterlassen hat, bleibt aber angesichts fehlender authentischer Zeugnisse wie Briefen fiktiv. Im Kapitel vorweg erklärt Soppa ihr literarisches Vorgehen. „Im Stadtarchiv St. Gallen findet sich der einzige erhaltene Brief aus Lütfrids Feder.
Er stammt aus dem Jahr 1428. Allein die Schrift: klein, sparsam, charaktervoll und überraschend gut lesbar, berührte mich spontan. Ich suchte nach weiteren Spuren des Kaufmanns und entdeckte so viele, dass ich beschloss, die Puzzlestücke zusammenzufügen und Lütfrid Muntprats Leben literarisch zu fassen. Als Roman, wohlgemerkt, nicht als Fachbuch.“
Das ist angesichts des Glossars und der Quellennachweise in diesem spannend und fesselnd zu
lesenden Roman eine glatte Untertreibung, im Hinblick auf die kunstvoll verwobenen Bauformen des Erzählens nicht unbescheiden: Da fallen immer wieder Worte aus der Zeit, wenn von Altervater (dem Großvater) oder Zungenklaffer (dem Verleumder) gesprochen wird, wenn Quellenzitate und Urkundentexte in die Erzählung eingewoben sind wie der vorweg erwähnte Brief, wenn Lütfrid in den Sprachen von Kostenz, Perselone oder Venedien mit seinen Mitbürgern und Geschäftspartnern aus Konstanz, Barcelona oder Venedig spricht und sich mit seiner Vielsprachigkeit und Verhandlungsgeschick Handelsbeziehungen erstreitet. Da
verschlingen sich die Erzählstränge um Liebesgeschichten und Todfeindschaften wie die
zwischen Lütfrid und der Tochter seines ärgsten Konstanzer Widersachers, der die Heirat
vereitelt und die uneheliche Enkeltochter erst am Ende seines Lebens versöhnlich in die Arme
schließt, mit Erzählsträngen um Verwandtschaft und Freundschaft wie zwischen den Eheleuten
und den Brüdern Muntprat oder um Heiratspolitik und Liebe wie zwischen Lütfrid und seiner
Frau Brida, die ihm den Weg zum Rheintaler Adel öffnet, schließlich um Handel und Wandel in
den Machtkämpfen zwischen Königen und Päpsten, zwischen Patriziern und Zünften in Zeiten,
in denen Kaufleute jederzeit auch auf abenteuerliche Begegnungen mit Raubrittern und Piraten
oder Krieg und Krankheiten gefasst sein mussten.
Man kann sich in den vielen Erzählsträngen dieses Buches verlieren, sich mitreißen lassen von
der Begeisterung der Autorin für ihren Helden, den sie menschlich zeichnet wie einen fernen
Freund, der als besonnener und strategisch kluger guter Kaufmann menschlich denkt und handelt und darin seiner Zeit voraus ist. Das ist für mich das Fiktive und Bezaubernde, das den Roman zu einer fesselnden Zeitreise macht, bei der man den historischen Muntprat nicht kennen, sein mittelalterlich geprägtes Denken nicht verstehen muss, um in seiner fiktiven Lebensgeschichte einen aufgeklärt denkenden Reiseführer zur Seite zu haben, der einen berührenden Blick auf das ausgehende Mittelalter und die Unwägbarkeiten historischer Veränderungen öffnet, die seinen eindrucksvollen Lebensweg geprägt haben.